♥   Schmökerecke I  


Meine liebsten Buchausschnitte aus "DIE HÜTTE - Ein Wochenende mit Gott"

von William Paul Young

 

 

ÜBER DAS WASSER GEHEN

Im Buch Seite 163:

 

(Mack:) „Warum bin ich dann so voller Furcht?“

 

(Gott:) „Weil du nicht glaubst. Du weißt nicht, dass wir dich lieben. Ein Mensch, der in Furcht lebt, findet keine Freiheit in meiner Liebe. Ich spreche hier nicht von rationalen Ängsten vor realen Gefahren, sondern ich meine eingebildete Ängste und vor allem die Projektion dieser Ängste in die Zukunft. In dem Maße, in dem du solchen Ängsten Platz in deinem Leben einräumst, glaubst du weder, dass ich gut bin, noch weißt du tief in deinem Herzen, dass ich dich liebe. Du singst dann vielleicht in Kirchenliedern davon und redest davon, aber du weißt es nicht.“

Mack blickte erneut auf das Wasser hinunter, und aus seiner Seele drang ein mächtiges Seufzen. „Mein Weg ist noch so weit!“

„Dabei ist es doch nur ein kleiner Schritt“, sagte Jesus lachend und legte Mack die Hand auf die Schulter.

Das genügte, um für Mack den Anstoß zu geben, und er trat von dem Steg hinunter aufs Wasser. Um es sich zu erleichtern, das Wasser als fest betrachten zu können und nicht von dessen Bewegungen erschreckt zu werden, richtete Mack den Blick fest auf das andere Ufer und hielt die Lunchbeutel vorsichtshalber hoch in die Luft.

Die Landung war weicher, als er erwartet hatte. Seine Schuhe wurden sofort nass, aber das Wasser reichte ihm nicht einmal bis hinauf zu den Knöcheln. Rings um ihn kräuselten sich weiterhin die kleinen Wellen des Sees, und fast hätte diese ständige Bewegung Mack aus dem Gleichgewicht gebracht. Es war merkwürdig.

Er senkte den Blick und stellte fest, dass seine Füße auf etwas Solidem, aber Unsichtbarem standen. Er drehte den Kopf und sah, dass Jesus neben ihm stand, lächelnd seine Socken und Schuhe in der Hand haltend.

„Wir ziehen immer unsere Schuhe und Socken aus, bevor wir es tun“, lachte er.

 

 

 

                  (Vergebung)

 

Jetzt gab es kein Halten mehr. Heiße Tränen flossen Mack übers Gesicht. Schluchzend stammelte er sein Geständnis: „Papa, wie soll ich jemals diesem Hurensohn vergeben, der meine Missy getötet hat? Wenn er jetzt hier wäre, wüsste ich nicht, was ich tun würde. Ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber ich will, dass er dafür bezahlen muss. Er soll leiden für das Leid, das er mir zugefügt hat… Wenn ich schon keine Gerechtigkeit bekommen kann, dann will ich immer noch Rache!“

Papa wartete, bis die Gefühlswelle, die aus Mack hervorbrach, wieder etwas abklang. „Mack, wenn du diesem Menschen vergibst, setzt du ihn damit frei, übergibst ihn mir und ermöglichst es mir, ihn zu erlösen.“

„Ihn erlösen?“ Wieder fühlte Mack das Feuer von Zorn und Schmerz. „Ich will nicht, dass er erlöst wird. Ich will, dass du ihn bestrafst, ihn in die Hölle schickst…“ Seine Stimme erstarb.

Papa wartete geduldig, bis Macks Emotionen nachließen.

„Ich stecke fest, Papa. Ich kann einfach nicht vergessen, was er getan hat.“

„Vergebung hat nichts mit Vergessen zu tun, Mack. Sie bedeutet, dass du damit aufhörst, einem anderen Menschen an die Kehle zu gehen.“

„Aber vergisst du denn nicht unsere Sünden?“

„Mack, ich bin Gott. Ich vergesse nichts. Ich weiß alles. Durch Vergessen würde ich mich selbst begrenzen. Sohn“, Papas Stimme wurde leise, und Mack blickte zu ihm auf, tief in Papas braune Augen, „dank Jesus gibt es heute kein Gesetz mehr, das verlangt, dass ich dich an deine Sünden erinnern muss. Sie sind null und nichtig, was dich und mich betrifft. Unsere Beziehung wird durch sie in keiner Weise beeinträchtigt. Das gilt für dich und für alle Menschen.“

„Aber dieser Mann … „

„Aber auch er ist mein Sohn. Ich möchte ihn erlösen.“

„Was soll ich also tun? Erwartest du von mir, dass ich ihm vergebe und dass dann alles okay ist und er und ich Freunde werden?“, fragte Mack sarkastisch.

„Du hast keine Beziehung zu diesem Mann, jedenfalls noch nicht. Durch Vergebung wird keine Beziehung geschaffen. In Jesus habe ich allen Menschen ihre Sünden gegen mich vergeben, aber nur manche entschließen sich, mit mir eine Beziehung einzugehen. Mackenzie, erkennst du nicht, welche unglaubliche Kraft in der Vergebung liegt? Eine Kraft, die du mit uns teilst, eine Kraft, die Jesus allen schenkt, in denen er wohnt, sodass die Aussöhnung wachsen kann? Als Jesus jenen vergab, die ihn ans Kreuz schlugen, standen sie nicht länger in seiner Schuld oder in meiner. In meiner Beziehung zu diesen Männern werde ich ihnen niemals vorhalten, was sie getan haben. Ich werde ihnen niemals Vorwürfe machen oder sie verurteilen.“

„Ich glaube nicht, dass ich dazu in der Lage bin“, sagte Mack sehr leise.

„Das wünsche ich mir aber von dir. Vergebung ist in erster Linie heilend für den, der vergibt. Denn du befreist dich von etwas, das dich sonst bei lebendigem Leib auffressen wird, das deine Freude zerstört und dich daran hindert, wirklich bedingungslos zu lieben. Glaubst du, diesen Mann kümmern die Schmerzen und Seelenqualen, die er dir bereitet hat? Im Gegenteil, das Wissen darum bereitet ihm sogar ein perverses Vergnügen. Willst du dem nicht ein Ende bereiten? Und wenn du das tust, befreist du ihn von einer Bürde, die er trägt, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht – ob er sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Wenn du einem Menschen vergibst, liebst du ihn auf gute Weise.“

„Ich liebe ihn nicht.“

„Nein, nicht heute. Aber ich liebe ihn, Mack – nicht das, was aus ihm geworden ist, aber das Kind, dessen Seele durch den Schmerz, den man ihm zugefügt hat, gebrochen und deformiert wurde. Ich möchte dir dabei helfen, dich für die Erkenntnis zu öffnen, dass Liebe und Vergebung mehr bewirkt als der Hass.“

 

Mack wurde wieder wütend über den Verlauf, den dieses Gespräch nahm. „Wenn ich diesem Mann vergebe, heißt das dann nicht, dass ich ihm damit erlaube, sich auch noch an meiner Kate zu vergehen, oder an meiner ersten Enkeltochter?“

„Mackenzie.“ Papas Stimme war stark und fest. „Ich habe dir doch schon gesagt, dass durch Vergebung keine Beziehung geschaffen wird. Solange Menschen sich nicht zu ihren Taten bekennen und ihr Verhalten ändern, ist eine auf Vertrauen basierende Beziehung nicht möglich. Wenn du einem Menschen vergibst, gibst du ihn frei und urteilst nicht länger über ihn, aber ohne eine echte Veränderung auf seiner Seite kann keine wirkliche Beziehung zwischen euch entstehen.“

„Ihm zu vergeben heißt also nicht, dass ich so tun muss, als sei seine schreckliche Tat niemals geschehen?“

„Wie könntest du das? Du hast in der vergangenen Nacht deinem Vater vergeben. Wirst du deshalb jemals vergessen, was er dir angetan hat?“

„Ich glaube nicht.“

„Aber jetzt kannst du ihn im Angesicht seiner Taten dennoch lieben. Die seelische Wandlung, die er durchgemacht hat, ermöglicht dies. Vergebung bedeutet in keiner Weise, dass du denen vertrauen sollst, denen du vergibst. Wenn sie aber endlich ihre Taten bekennen und bereuen, wirst du in deinem Herzen ein Wunder entdecken, das es dir ermöglicht, zwischen euch eine Brücke der Versöhnung zu bauen. Und manchmal – und das wird dir jetzt noch undenkbar erscheinen – kann diese Brücke dich sogar zu einer völligen Wiederherstellung des Vertrauens führen.“

Mack ließ sich auf den Boden gleiten und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stein, auf dem er zuvor gesessen hatte. Er betrachtete die Erdklumpen zu seinen Füßen. „Papa, ich glaube, ich verstehe, was du meinst. Aber es fühlt sich für mich immer noch so an, als würde dieser Verbrecher ungeschoren davonkommen, wenn ich ihm vergebe. Wie kann ich entschuldigen, was er getan hat? Ist es denn fair Missy gegenüber, wenn ich aufhöre, wütend auf ihn zu sein und ihn zu verurteilen?“

„Mackenzie, Vergebung entschuldigt überhaupt nichts. Glaube mir, dieser Mann ist wirklich alles andere als frei. Und es ist nicht deine Aufgabe, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Darum werde ich mich kümmern. Und was Missy angeht: Sie hat ihm schon vergeben.“

„Das hat sie?“ Mack blickte noch nicht einmal auf. „Wie konnte sie das?“

„Wegen meiner Gegenwart in ihr. Nur dadurch ist wahre Vergebung überhaupt möglich.“

 

Mack spürte, wie Papa sich neben ihn auf den Boden setzte, blickte aber noch immer nicht auf. Als Papa ihm sanft den Arm um die Schultern legte, fing er an zu weinen. „Lass es alles heraus“, hörte er Papa flüstern, und endlich konnte er genau das tun. Er schloss die Augen, und die Tränen flossen in Strömen. Wieder überfluteten die Erinnerungen an Missy sein Bewusstsein – Visionen von Malbüchern, Buntstiften und zerrissenen, blutigen Kleidchen. Er weinte, bis er alle Dunkelheit aus sich herausgeschluchzt hatte, alle Sehnsucht und alle Trauer, bis nichts mehr davon übrig war.

Er schwankte vor und zurück und flehte: „Hilf mir, Papa. Hilf mir! Was soll ich tun? Wie kann ich ihm vergeben?“

„Sag es ihm.“

Mack blickte auf. Halb erwartete er, einen Mann vor sich stehen zu sehen, dem er noch nie begegnet war, aber da war niemand.

„Wie, Papa?“

„Sprich es einfach laut aus. In dem, was meine Kinder verkünden, liegt meine große Kraft.“

Mack flüsterte, zunächst halbherzig und stotternd, aber dann mit wachsender Überzeugung: „Ich vergebe dir. Ich vergebe dir. Ich vergebe dir.“

 

 

Im Buch Seite 135 – 145

Sie hielt inne und schaute ihn an. „Mackenzie, ich bevorzuge niemanden. Ich mag ihn nur ganz besonders gern.“

„Du scheinst mir eine Menge Leute ganz besonders gern zu haben“, stellte Mack mit misstrauischem Blick fest. „Gibt es auch Leute, die du nicht besonders gern hast?“

Sie hob den Kopf und rollte mit den Augen, als würde sie im Geiste jedes Wesen, das sie je erschaffen hatte, Revue passieren lassen. „Nee, da wüsste ich niemanden. So ist es nun einmal.“

Mack war interessiert. „Bist du denn niemals wütend auf einen von ihnen?“

„Aber klar“ Geht das nicht allen Eltern so? Bei dem Schlamassel, den meine Kinder angerichtet haben, und dem Schlamassel, in dem sie stecken, gibt es eine Menge Gründe, wütend zu sein. Mir gefallen viele ihrer Entscheidungen nicht, aber diese Wut ist – besonders bei mir – dennoch ein Ausdruck der Liebe. Ich liebe die, auf die ich wütend bin, genauso wie die, die mich nicht wütend machen.“

„Aber was ist mit dem Zorn Gottes?“, fragte Mack. „Mir scheint, dass du sehr viel zorniger sein müsstest, wenn du als Gott der Allmächtige überzeugen willst.“

„Jetzt überzeuge ich also nicht?“

„In der Bibel hast du doch ständig alle möglichen Leute getötet. Dein jetziges Verhalten passt nicht recht zu diesem Image.“

„Ich verstehe, wie verwirrend das alles für dich sein muss, Mack. Aber ich muss niemanden überzeugen, und ich gebe nicht vor, etwas zu sein, was ich nicht bin. Der Einzige, der sich hier verstellt und versucht, anderen etwas vorzumachen, bist du. Ich bin, was ich bin. Ich versuche nicht, dem Bild zu entsprechen, das manche Leute vielleicht von mir haben.“

„Aber du erwartest von mir, dass ich glauben soll, du seist Gott, und ich verstehe einfach nicht …“ Mack hatte keine Ahnung, wie er seinen Satz beenden sollte, also gab er einfach auf.

„Ich erwarte nicht von dir, dass du etwas glauben sollst, aber ich sage dir, dass dieser Tag für dich sehr viel leichter werden wird, wenn du einfach akzeptierst, was ist, statt dir das, was ist, so zurechtzubiegen, dass es in dein vorgefasstes Denkschema passt."

 

„Aber wenn du Gott bist, bist du dann nicht der, der seinen Zorn über die Welt ausgießt und Menschen in brennende Seen aus Feuer wirft?“ Mack spürte, wie seine tief sitzende Wut wieder aus ihm herausbrach, und er schämte sich für seinen Mangel an Selbstbeherrschung. Dennoch fragte er: „Im Ernst, bereitet es dir kein Vergnügen, jene zu bestrafen, die dich enttäuschen?“

Da unterbrach Papa die Frühstücksvorbereitungen und wandte sich Mack zu. Er sah eine tiefe Traurigkeit in ihren Augen. „Ich bin nicht so, wie du glaubst, Mackenzie. Ich brauche die Menschen nicht für ihre Sünden zu bestrafen. Die Sünde trägt ihre eigene Strafe in sich, sie verzehrt dich von innen heraus. Es ist nicht meine Absicht, jene zu bestrafen, die sündigen. Vielmehr ist es meine Freude, die Sünde zu heilen.“

„Ich verstehe nicht …“

„Ja, stimmt, das tust du nicht“, sagte sie mit einem Lächeln, das aber immer noch ein bisschen traurig war. „Aber unser Treffen ist ja auch noch nicht beendet.“

In diesem Moment kamen Jesus und Sarayu lachend durch die Hintertür herein, in ihr eigenes Gespräch vertieft. Jesus war wieder ähnlich wie am Vortag gekleidet, schlichte Jeans und ein hellblaues Hemd, das seine dunkelbraunen Augen betonte. Sarayu hingegen war in ein äußerst zartes, spitzenbesetztes Gewand gehüllt, das in der leichtesten Brise und bei jedem Wort, das gesprochen wurde, sanft wallte und floss. Regenbogenmuster schimmerten und flirrten mit jeder ihrer Gesten. Mack fragte sich, ob sie jemals völlig bewegungslos verharrte. Er bezweifelte es.

Papa beugte sich vor, sodass sch ihr Gesicht auf Augenhöhe zu Macks befand. „Du hast einige wichtige Fragen angesprochen, und wir werden uns später mit ihnen befassen, das verspreche ich. Doch lass uns nun gemeinsam das Frühstück genießen.“

Mack nickte und fühlte sich erneut etwas verlegen, als er sich dem Essen zuwandte. Trotzdem war er hungrig, und es gab reichlich zu essen.

„Danke für das Frühstück“, sagte er zu Papa, während Jesus und Sarayu ihre Plätze einnahmen.

„Was?“, sagte sie in gespieltem Entsetzen. „Du willst noch nicht einmal den Kopf neigen und die Augen schließen?“ Sie verschwand in Richtung Küche und brummte: „Tss, tss, tss. So weit ist es mit der Welt gekommen! Gern geschehen, Liebling!“ Sie winkte über die Schulter. Einen Moment später kehrte sie mit einer weiteren dampfenden Schüssel zurück, aus der köstliche und einladende Düfte aufstiegen.

Sie reichte sich gegenseitig das Essen, und gebannt lauschte Mack dem Gespräch zwischen den dreien. Es ging darum, wie man eine Familie wieder aussöhnen konnte, die sich voneinander entfremdet hatte, aber es war nicht so sehr, worüber sie sprachen, was Mack so verzauberte, sondern wie sie miteinander kommunizierten. Nie hatte er drei Menschen in solcher Einfachheit und Schönheit Gemeinschaft praktizieren sehen. Jeder schien sich der beiden anderen stärker bewusst zu sein als sich selbst.

„Und, wie ist deine Meinung dazu, Mack?“, fragte Jesus.

„Ich habe keine Ahnung, wovon ihr redet“, sagte Mack, den Mund halb voll mit köstlichem Grüngemüse. „Aber ich liebe die Art, wie ihr miteinander redet.“

„Hey“, sagte Papa, die gerade mit einer weiteren Köstlichkeit aus der Küche zurückkehrte, „sei mit diesem Gemüse ein bisschen vorsichtig, junger Mann. Wenn du nicht aufpasst, bekommst du mir noch Dünnpfiff.“

„Okay“, sagte Mack, „ich werde den Rat beherzigen.“ Dann nahm er sich etwas von der Speise, die sie ihm anbot. Er wandte sich wieder Jesus zu und fuhr fort: „Ich liebe die Art, wie ihr miteinander umgeht. Es entspricht überhaupt nicht dem Bild, das ich von Gott hatte.“

„Wie meinst du das?“

„Nun, ich weiß, dass ihr das Eine und das Ganze seid und dass es drei von euch gibt. Aber ihr behandelt euch gegenseitig mit solchem Respekt. Ist denn nicht einer von euch der Boss?“ 

Die drei schauten sich an, als hätten sie noch nie über eine solche Frage nachgedacht.

„Ich meine“, fügte Mack rasch hinzu „ich dachte immer, Gott, der Vater, wäre der Chef, und Jesus wäre derjenige, der die Anweisungen des Vaters ausführt, ihr wisst schon, gehorsam ist. Ich bin mir nicht sicher, wie der Heilige Geist in das Bild passt. Er … ich meine … sie …. hm …“ Mack bemühte sich, Sarayu nicht anzuschauen, während er nach Worten suchte.“ … wie dem auch sei – der Heilige Geist schien mir immer eine Art von … hm …“

„Ein freier Geist?“, schlug Papa vor.

„Genau – ein freier Geist zu sein, der aber immer noch vom Vater kontrolliert wird. Ergibt das einen Sinn?“

Jesus schaute Papa an, sichtlich bemüht, erst zu bleiben. „Ergibt das für dich einen Sinn, Abba? Offen gestanden, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon dieser Mann redet.“

Papa verzog das Gesicht und tat, als würde sie angestrengt nachdenken. „Nee, ich versuche wirklich, schlau daraus zu werden, aber ich raffe es einfach nicht.“

„Natürlich wisst ihr, wovon ich rede.“ Mack war ein wenig frustriert. „Ich rede davon, wer das Kommando hat. Habt ihr denn keine Befehlskette?“

„Befehlskette? Das klingt ja grässlich!“, sagte Jesus.

„Jedenfalls äußerst unfrei“, fügte Papa hinzu. Dann fingen sie beide an zu lachen. Papa wandte sich Mack zu und sang: „Mag deine Kette auch golden sein, sie bindet dir dennoch das Bein.“

„Lass dich nicht von den beiden veräppeln“, unterbrach Sarayu und legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zu trösten und zu beruhigen. „Sie spielen nur mit dir. Ich will dir aber gern etwas dazu erklären.“

Mack nickte, erleichtert, aber etwas ärgerlich auf sich selbst, weil er sich erneut hatte aus der Fassung bringen lassen.

„Mackenzie, es gibt unter uns kein Konzept einer obersten Autorität, nur Einssein. Unsere Beziehung ist ein Kreis, keine Befehlskette oder ‚Kette des Seins’, wie deine Vorfahren es zu nennen pflegten. Was du hier erlebst, ist eine Beziehung ohne Machtspiele. Wir müssen keine Macht über den anderen ausüben, weil wir stets nur das Beste wollen. Hierarchie würde für uns keinen Sinn ergeben. Das mag für dich ein Problem sein, für uns nicht.“

„Wirklich? Warum ist das so?“

„Die Menschen sind so verloren und geschädigt. Darum ist es für euch fast unvorstellbar, dass Leute zusammenleben oder zusammenarbeiten können, ohne dass jemand Macht über andere ausübt.“

„Aber jede menschliche Institution, von der Politik über das Geschäftsleben bis hin zur Ehe, wird von dieser Art zu denken bestimmt. Die ganze Struktur unserer Gesellschaft basiert darauf“, sagte Mack.

„Was für eine Verschwendung!“, rief Papa, nahm den leeren Teller und ging damit zur Küche.

„Das ist einer der Gründe dafür, dass es euch so schwerfällt, wirklich glückliche Beziehungen aufzubauen“, setzte Jesus hinzu. „Habt ihr einmal eine Hierarchie geschaffen, braucht ihr Regeln, um sie zu schützen und zu verwalten, und dann braucht ihr Gesetze und die gewaltsame Durchsetzung dieser Regeln, und damit endet ihr mit einer Befehlskette oder einem Ordnungssystem, das gesunde Beziehungen zerstört, statt sie zu fördern. Nur ganz selten erlebt ihr Beziehungen, in denen Macht keine Rolle spielt. Die Hierarchie bringt Gesetze und Regeln hervor, und als Folge davon entgeht euch das Wunder der Beziehung, wie wir sie für euch vorgesehen hatten.“

„Aber wir haben uns ziemlich gut daran angepasst“, sagte Mack sarkastisch.

Darauf erntete er eine rasche Erwiderung von Sarayu: „Verwechsle Anpassung nicht mit Absicht oder Versuchung mit Realität.“

 

»Das heißt also, hm, könnte ich bitte noch etwas von diesem Gemüse bekommen? Das heißt also, wir wurden dazu verführt, uns derartig auf Fragen der Autorität zu fixieren? «

»In gewissem Sinne ja!«, antwortete Papa, die Mack die Platte mit dem Gemüse reichte und sie erst wieder wegnahm, als er sich zwei mal davon genommen hatte. »Ich sorge eben gut für dich, mein Sohn. «

Sarayu fuhr fort: »Wenn ihr Unabhängigkeit dem Eingehen von Beziehungen vorzieht, werdet ihr zur Gefahr für euch selbst und andere. Dann manipuliert ihr andere Menschen um eures eigenen Glückes willen. Autorität, wie ihr sie euch gemeinhin vorstellt, ist bloß eine Entschuldigung, welche die Starken benutzen, um den Schwachen ihren Willen aufzuzwingen. «

»Ist Autorität denn nicht hilfreich, um Menschen davon abzuhalten, sich endlos gegenseitig zu bekämpfen oder verletzt zu werden? «

»Manchmal. Aber in einer selbstsüchtigen Welt wird Macht eben auch dafür benutzt, großen Schaden anzurichten. «

»Aber kann man sie denn nicht dazu nutzen, das Böse in dir Schranken zu weisen? «

»Wir respektieren alle eure Entscheidungen, daher arbeiten wir innerhalb eurer Systeme. Aber unser Ziel ist es, euch aus diesen Systemen zu befreien«, fuhr Papa fort. »Die Schöpfung hat einen Weg eingeschlagen, der ganz anders ist, als wir es uns gewünscht haben. In eurer Welt wird der Wert des Individuums ständig gegen das Überleben des Systems abgewogen, sei es nun politisch, ökonomisch, sozial oder religiös — das gilt für jedes eurer Systeme. Erst wird ein Mensch, dann werden ein paar und schließlich sogar viele für das Gute und den Fortbestand des Systems geopfert. In der einen oder anderen Form liegt das jedem eurer Machtkämpfe zugrunde, jedem Vorurteil, jedem Krieg und jedem Missbrauch einer Beziehung. Das

>Streben nach Macht und Unabhängigkeit< ist so weitverbreitet, dass ihr es heute als normal anseht. «

»Ist es das denn nicht? «

»Es ist das menschliche Paradigma«, fügte Papa hinzu, die mit noch mehr Essen zurückkehrte, »es ist wie das Wasser für den Fisch, so all gegenwärtig, dass ihr es gar nicht mehr bemerkt oder infrage stellt. Es ist die Matrix — ein diabolisches System, in dem ihr hoffnungslos gefangen seid, ohne euch seiner Existenz überhaupt bewusst zu sein. «

Jesus nahm den Gesprächsfaden auf. „ Ihr wurdet als glorreiche Krone der Schöpfung nach unserem Ebenbild erschaffen, frei von allen Systemen und Strukturen, frei, einfach nur zu >sein<, in Beziehung zu mir und untereinander. Hättet ihr wirklich gelernt, euch um eure Nächsten so sehr zu sorgen wie um euch selbst, gäbe es keine Notwendigkeit für Hierarchien. «

Mack lehnte sich im Stuhl zurück, erstaunt über die Implikationen was er da hörte. »Du willst also behaupten, dass jedes Mal, wenn wir Menschen uns mithilfe von Macht schützen...«

„…ihr euch der Matrix ausliefert«, beendete Jesus den Satz.

„Und nun«, warf Sarayu ein, »schließt sich der Kreis und wir sind wieder bei meiner ersten Aussage: Ihr Menschen seid so verloren und geschädigt, dass hierarchiefreie Beziehungen für euch fast unvorstellbar sind.

Deshalb glaubt ihr, Gott müsse so hierarchisch denken und leben wie ihr. Aber das trifft nicht zu. «

»Aber wie können wir das jemals ändern? Dann würden wir doch nur von anderen ausgenutzt. «

»Das werden sie höchstwahrscheinlich tun. Aber wir bitten dich ja auch gar nicht, dich anderen Menschen gegenüber so zu verhalten, Mack. Wir bitten dich, es mit uns zu tun. Nur so kann es beginnen. Wir werden dich niemals manipulieren oder ausnutzen. «

»Mack«, sagte Papa mit einer Intensität, die ihn veranlasste, besonders aufmerksam zuzuhören, »wir wollen mit dir die Liebe und Freude und Freiheit und das Licht teilen, das wir bereits in uns tragen. Wir haben euch erschaffen, die Menschen, damit ihr eine ganz persönliche Beziehung von Angesicht zu Angesicht mit uns haben sollt und euch dem Kreis unserer Liebe anschließt. So schwer begreiflich das für dich sein mag, alles, was geschieht, dient ausschließlich diesem Ziel, ohne dass dabei euer freier Wille verletzt wird. «

»Wie könnt ihr so etwas sagen, angesichts des unermesslichen Leids in der Welt, der Kriege und Katastrophen, die Tausende das Leben kosten? « Macks Stimme wurde zu einem Flüstern. »Und welchen Wert soll es haben, wenn ein kleines Mädchen von einem abartigen Perversen ermordet wird? « Da war sie wieder, die Frage, die ihm auf der Seele brannte. »Vielleicht ruft ihr diese Dinge nicht hervor, aber jedenfalls unternehmt ihr auch nichts, um sie zu verhindern. «

»Mackenzie«, antwortete Papa sanft, ohne im Geringsten verletzt durch diese Anschuldigung zu wirken, »es gibt Millionen Gründe dafür, Schmerz und Verletzungen zu erlauben, statt sie auszumerzen, aber die meisten dieser Gründe lassen sich nur im Rahmen der individuellen Geschichte eines Menschen verstehen. Ich bin nicht böse. Ihr selbst sorgt dafür, dass eure zwischenmenschlichen Beziehungen mit Angst, Schmerz, Machtgier, Rechten und Pflichten belastet sind. Aber eure Entscheidungen sind niemals stärker als meine Absichten, und ich werde jede Entscheidung, die ihr trefft, dazu nutzen, dem höchsten Guten Geltung zu verschaffen und die liebevollsten Resultate herbeizuführen.«

»Weißt du«, sagte Sarayu, »gebrochene Menschen richten ihr Leben nach Dingen aus, die ihnen gut erscheinen, aber das wird ihnen weder Erfüllung schenken noch sie befreien. Sie sind süchtig nach Macht oder nach der Illusion von Sicherheit, die Macht ihnen bietet. Wenn eine Katastrophe geschieht, werden sich dieselben Leute gegen jene Macht wenden, der sie zuvor vertraut haben. Entweder erweicht die Enttäuschung ihnen dann das Herz und sie öffnen sich mir, oder sie werden noch kühner in ihrem Unabhängigkeitsstreben. Wenn du doch nur sehen könntest, wie all das enden wird und was wir erreichen werden, ohne den freien Willen eines einzigen Menschen zu verletzen, dann würdest du verstehen! Eines Tages wirst du es verstehen. «

»Aber zu welchem Preis? «, fragte Mack fassungslos. »Schaut euch doch an, welchen Preis wir dafür bezahlen müssen — all die Schmerzen, all das Leid, alles, was so schrecklich und böse ist! « Er schwieg einen Moment und betrachtete die Narben an Papas und Jesu Handgelenken. »Und schaut euch an, was es euch gekostet hat, ist es das wirklich wert?“

“Ja! «, antworteten alle drei freudig im Chor.

«Aber wie könnt ihr das sagen? «, stieß Mack hervor. »Das klingt ja, als würde der Zweck die Mittel heiligen, dass euch jedes Mittel recht ist, wenn ihr nur eure Ziele erreicht, und sollte es Milliarden Menschen das Leben kosten! «

„Mackenzie.« Das war wieder die Stimme Papas, besonders sanft und mitfühlend. „Du verstehst wirklich noch nicht. Du versuchst, die Welt, in der du lebst, zu verstehen, jedoch aus einer sehr engen und unvollständigen Perspektive. Es ist, als würdest du durch das winzige Astloch von Schmerz, Ichbezogenheit und Macht einen Festumzug beobachten und glauben, du seist auf dich allein gestellt und bedeutungslos. Doch das sind lediglich Lügen, wenn auch sehr wirkungsvolle. Du glaubst, Schmerz und Tod seien das ultimative Böse und Gott sei der ultimative Betrüger oder vielleicht, im besten Fall, zutiefst unglaubwürdig. Du diktierst die Bedingungen, urteilst über meine Handlungen und sprichst mich schuldig. Der wahre, grundlegende Makel in deinem Leben, Mackenzie, ist, dass du mich nicht für gut hältst. Wenn du wüsstest, dass ich gut bin und dass alles — die Mittel, die Resultate und alle Vorgänge des individuellen Menschenlebens — in meine Güte eingeschlossen ist, dann würdest du zwar mein Handeln nicht immer verstehen, aber du würdest mir vertrauen. Doch du vertraust mir nicht. «

»Nein? «, sagte Mack, aber es war keine wirkliche Frage. Gott hatte Recht, und Mack wusste das. Die anderen schienen es auch zu wissen und schwiegen.

Dann sprach Sarayu: »Mackenzie, man kann Vertrauen ebenso wenig künstlich hervorbringen wie Demut. Beides ist entweder da oder nicht. Vertrauen ist die Frucht einer Beziehung, in der du weißt, dass du geliebt wirst. Weil du nicht weißt, dass ich dich liebe, kannst du mir nicht vertrauen. «

Wieder herrschte Schweigen, bis Mack den Kopf hob, Papa anschaute und sagte: »Ich weiß nicht, wie ich das ändern könnte. «

»Das kannst du auch nicht, jedenfalls nicht allein auf dich gestellt. Aber gemeinsam werden wir diese Veränderung bewerkstelligen. Jetzt möchte ich erst einmal nur, dass du bei mir bist und entdeckst, dass es in unserer Beziehung nicht um Leistung geht oder darum, dass du mich zufrieden stellen müsstest. Ich bin kein Tyrann, keine egoistische, fordernde kleine Gottheit, die darauf beharrt, ihren Willen durchzusetzen. Ich bin gut, und ich wünsche mir das Beste für dich. Das lässt sich niemals mittels Schuldgefühlen, Verdammung und Zwang erreichen, sondern nur durch eine echte Liebesbeziehung. Und ich liebe dich. «

Sarayu stand vom Tisch auf und schaute Mack in die Augen.»Mackenzie«, sagte sie, »wenn du magst, schlage ich vor, dass du mir ein wenig im Garten hilfst. Es gibt dort vor dem morgigen Fest noch einiges zu tun. Wir können dabei unser Gespräch fortsetzen. «

Mack war einverstanden, bedankte sich höflich bei Papa für das Frühstück, nickte Jesus zu und folgte Sarayu zur Tür. Dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Eine Bemerkung noch. Ich kann mir einfach kein Endziel vorstellen, das all dieses Leid rechtfertigen würde. «

»Mackenzie.« Papa erhob sich, ging um den Tisch herum und drückte ihn kräftig an sich. »Wir rechtfertigen das Leid nicht. Wir erretten euch daraus. «